Weite Räume_HistoLog.deGegen den überflüssigen Modewortgebrauch in der Geschichtswissenschaft

Was ist kritische Geschichtsschreibung heute? Welche Mittel sind Historiker/innen durch Facebook, Twitter und andere technische Entwicklungen gegeben, welche vielleicht auch genommen? Findet Geschichtswissenschaft zunehmend und bald nur noch virtuell im World Wide Web 2.0, 3.0, 4.0 statt? Werden die langsam zunehmenden Online-Vorlesungen der Universitätsprofessoren in naher Zeit den Besuch einer Universität ersetzen? Tritt vielleicht sogar der Computer an die Stelle des akademischen Lehrers und schreibt er vielleicht auch bald die Texte der Historiker/innen?

Verlockend und erschreckend ist die Vorstellung einer multimedial-vereinfachten Wissenschaftswelt. Wer wagt sich im Angesicht der alles beantwortenden Informationsquellen noch, eine einfache Frage zu stellen?

Wie sich zeigt, spielt gerade für die wissenschaftliche Geschichtsschreibung die Beschäftigung mit der Zukunft eine weitaus größere Rolle, als man dieser vergangenheitsbezogenen Disziplin zugetraut hätte. Sobald Geschichte vermittelt werden, gelehrt werden und bilden soll, wird es nötig, sich dem Lauf der Zeit anzupassen. Nur wer mit der Zeit geht, findet weiterhin Zuhörer/innen und Leser-/innen. Nur wer den aktuellen Trends folgt, findet Menschen, die Interesse haben dies nach zu tun. Wer nicht mit der Zeit geht, verliert irgendwann den Kontakt zu seiner Hörer-, Seher- oder Leserschaft. Das könnte dann in folgendem Vorwurf münden:

»Wie, Sie haben noch keinen Video-Blog, Herr Professor? Dann wird’s aber Zeit! Woher soll ich denn wissen, welche E-read-out-Books ich für die Prüfung downfusen muss? Auf Facebook 4 D habe ich Ihr Live-Profil nicht gefunden …da war nur ein Bild und Ihre E-Mail Adresse. Mit meinem Terra-Locator kann ich so veraltete Adressen nicht mehr connecten. Ich muss Sie orten können! Wie ist Ihre Tracking-Spot-ID?«

Er- oder sogar verschreckt zieht sich der Professor daraufhin wahrscheinlich in sein stilles Kämmerlein zurück, öffnet sein Notebook und liest langsam entspannend ein PDF: Friedrich Nietzsches »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Hier wird er über »den Wert und den Unwert der Historie« sinnieren und Nietzsche beipflichten, wenn er sagt »wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders … wir brauchen sie zum Leben … Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen«. Und ebenso wie der später umnachtete Philosoph wird er ein Verlangen verspüren, sich an den merkwürdigen Symptomen seiner Zeit zu rächen. Er wird sich zurücklehnen und von den Weiten des historischen Raumes träumen, die er einst beherrschte. Und er wird sich vornehmen, diese Weiten wieder salonfähig zu machen und wo es geht noch auszuweiten, damit ihn kein Student mehr mit Dingen belästigt, die er nicht versteht.

Wo führt dieser kleine allegorische Beginn nun hin? Ist es wirklich sinnvoll für Wissenschaft und Geschichtsschreibung, sich derart mit der Zukunft zu beschäftigen, sich ihr zu beugen oder sich ihr entgegenzustemmen? Nur insofern, als diese Beschäftigung ein Besinnen auf das Wesentliche, auf das Eigentliche, auf Ziel und Zweck der Geschichtsschreibung bewirkt. Oft ist es nur durch die Verbildlichung einer Schreckensvision möglich, den Blick vom Tagesgeschäft zu lösen und das eigene Tun und Wirken zu hinterfragen. Also nun von neuem und in besinnlicherem Fortgang:

Kritische Geschichtsschreibung und die Weite historischer Räume

Kritische Geschichtsschreibung sollte trotz aller auf die zeitgenössischen Historiker/innen einstürmenden Bild- und Textgewalten den wissenschaftlichen Ansprüchen Nachvollziehbarkeit und Objektivität folgen. Die Nachvollziehbarkeit ist bei einer gründlichen, methodisch wie systematisch strukturierten Text- und Quellenarbeit gegeben und eigentlich kein Missstand zeitgenössischer historiografischer Veröffentlichungen, deren Fußnotenapparat nicht selten die Hälfte einer Seite einnimmt. Doch wie ist es um die Objektivität bestellt? Die Begrifflichkeiten »kritisch« und »objektiv« führen den Betrachter dieser Frage unweigerlich in die prägende Vorstellungswelt Immanuel Kants. Hier gilt es durch die kritische Perspektive zum eigentlichen Inhalt oder zu den eigentlichen Tatsachen zu gelangen und so die Subjektivität – welche einer eingeschränkten oder gefärbten Perspektive gleichkommt – zu verlassen, um zu objektiven allgemeingültigen Wahrheiten zu gelangen. Unser Begriff der »Wissenschaft« lässt uns diese »kritische Struktur« der allgemeingültigen Wahrheit unmittelbar mitdenken. Vereinfachend ausgedrückt muss ein wissenschaftlicher Text auch Kritik standhalten und Kritiker überzeugen können. Überzeugt ist ein Kritiker jedoch nur, wenn er der Argumentation folgen und die allgemeingültige Wahrheit dadurch annehmen kann. Nachvollziehbarkeit und Objektivität gehen so Hand in Hand – ohne den einen kann auch der andere Anspruch nicht erfüllt werden.

Beim Bemühen historische Tatbestände, Entwicklungen und Strukturen objektiv darzustellen geht es um Genauigkeit, nicht nur in der Sache, sondern auch in der Wortwahl. Betrachtet man zeitgenössische historiografische Texte unter diesem Blickwinkel, eines wechselseitigen Begründungsverhältnisses von Objektivität und Nachvollziehbarkeit, so muss man oftmals die Objektivität infrage stellen. Die meisten historischen Texte erwecken zwar den Anschein einer Genauigkeit, die durch ihr Vokabular und ihren Kontext jeden Leser und jede Leserin herausfordert und manche sogar überfordert, bei genauerem Hinsehen entlarven sich aber viele der Eindruck schindenden Vokabeln als oberflächlich und ungenau. Die oben getroffene Feststellung, in der Nachvollziehbarkeit gäbe es keinen Mangel, erscheint daher auch vorschnell zu sein. Nachvollziehbar ist ein Text nicht nur durch die genaue Angabe der verwendeten Quellen und Literatur, sondern auch – und das in einem noch größeren Umfang – durch seine Verständlichkeit und seine in sich schlüssige Argumentation.

Ich will dies anhand zweier Bilder veranschaulichen: dem des Kokons und dem der Galauniform. Um eine in sich schlüssige Argumentation in einem Text deutlich darlegen zu können, bedarf es der Schaffung eines Kontexts, der gleich einem Kokon den Text umhüllt, ihn trägt und ihm seine Lebensfähigkeit in der rauen Wissenschaftswelt erst ermöglicht.

Dieser Kontext steht durch allgemein eingehaltene Regeln wissenschaftlichen Schreibens bereits auf einer soliden Basis. Eine Überschrift verrät etwas über den Inhalt, der Untertitel spezifiziert diesen, die Einleitung erläutert Forschungsstand, methodische Vorgehensweise und Quellengrundlage und das Fazit verdeutlicht nachdrücklich die gewonnenen Erkenntnisse. Erweitert wird diese Basis durch die Definition der verwendeten Begriffe und Erläuterungen der Vorgehensweise einer Untersuchung. Und eben hier liegt das sich immer weiter bahnbrechende Manko zeitgenössischer historiografischer Texte. Immer häufiger begnügen sich Historiker/innen damit, ihre Argumentation durch in- oder explizite Verweise auf einen größeren Kontext zu untermauern. Durch die Verwendung eines speziellen Vokabulars wird auf Denkrichtungen, Schulen, Vorarbeiten und auf andere Wissenschaftler/innen verwiesen. Der Kontext weist in diesen Fällen weit über die Grenzen des einen Texts hinaus und erschließt sich dadurch nur noch einem fachkundigen Publikum.

Natürlich gibt es in einem Text zahlreiche Verweise auf Elemente, die nicht innerhalb des Texts erwähnt werden können: Die Sprache, allgemein verständliche Begriffe und Zusammenhänge bedürfen ebenso wenig einer Erläuterung wie gezielt eingesetzte Fremdworte. Dennoch sollte ein kritischer wissenschaftlicher Text immer auch dem Anspruch folgen, die Anzahl und die Reichweite dieser Verweise so gering wie möglich zu halten – was dem Anspruch allgemein verständlich und nachvollziehbar zu schreiben gleichkommt. Der Trend weist jedoch in die entgegengesetzte Richtung. In der Zeit des Internets, des pfeilschnellen Nachforschens von Information und Bedeutung nehmen die Verweise überhand. Vom Studenten bis zur Professorin verwenden viele Historiker/innen gerade unerläuterte Verweise als Ausweis ihrer fachlichen Befähigung. Der Kontext verliert hier seine dem Kokon eines Texts entsprechende Funktion und wird zur Galauniform, die Text und Autor schmücken und etablieren soll. Das nimmt mitunter so obskure Formen an, dass nach Synonymen gesucht wird, um verständliche Wörter durch gelehrtes Vokabular zu ersetzten. Aus »aufgreifen« oder »verweisen« wird »rekurrieren«, aus »zusammengefasst« oder »konzentriert« wird »kompendiös« und »konzis«. Diese eigentlich unproblematische, weil nachschlagbare Begriffsveränderung wird dann schwerwiegend, wenn es hierbei zu unabsichtlichen Umdeutungen kommt oder die schiere Menge an bedeutungsschwangeren Begriffen eine Definition anhand des Kontexts nicht mehr erlaubt. Verweist der rekurrierende Botschafter nun auf ein Dokument oder greift er es erneut auf? Bietet das kompendiöse Buch nun konzentrierte Inhalte oder ist es lediglich eine Zusammenfassung verschiedener Ansätze? Die feinen Unterschiede der Sprache bleiben so auf der Strecke – und mit ihnen Nachvollziehbarkeit und Objektivität.

Besondere Auswüchse sind hierbei zu beobachten, wenn zur gelehrten Umdeutung auch noch eine modische Variante hinzukommt, die ebenfalls aus dem Motiv der Galauniform entsprungen zu sein scheint. Was vor einiger Zeit noch »Umfeld« oder »Milieu« genannt wurde, erscheint heute als »Raum«, als förmlich alles umschließendes und alles beschreibendes Bollwerk akademischer Texte. Dabei ist die historische Perspektive auf den Raum eine sehr sinnvolle Analyseeinheit. Sie dient einerseits der Abkehr von Einheiten wie »Nation«, »Volk« oder auch »Staat« und erlaubt neue Grenzziehungen in einer Zeit, die auch durch ein Verschwimmen bisheriger Grenzen gekennzeichnet ist. Andererseits ergänzt der »Raum« die in der Geschichtswissenschaft schon immer im Hintergrund beachtete »Zeit«. Als historische Analyseeinheiten werden »Raum« und »Zeit« einer im menschlichen Verständnis schon immer zusammengedachten Konzeption gerecht.

Doch gleichzeitig begibt sich die Geschichtsschreibung mit der aus der Geographie und der Kulturwissenschaft übernommenen Prominenz des Raums auf ein Minenfeld. Und hiermit ist nicht die Problematik gemeint, die auf völkische und nationalsozialistische Begriffe wie »Lebensraum« oder »Volk ohne Raum« verweist. Vielmehr scheint der kulturwissenschaftlich verstandene »Raum« in der Geschichtswissenschaft stets mit neuem Inhalt aufgeladen zu werden. Es finden sich in zahlreichen Abhandlungen kulturelle und prägende Räume, räumliche Verbindungen verschiedenster Prozesse, Raumstrukturen und Raumnutzungen, Raumgewinne und -verluste, Raumplanungen und Raumkonvergenzen. Es wird nach der Überschneidung, dem Überlappen oder der Überlagerung unterschiedlicher Räume gesucht, es werden Spielräume und Handlungsräume, Aktionsräume und Agitationsräume erörtert. In der historischen Betrachtung vermischen sich unter dem Pseudonym »Raum« dann der Ort, an welchem ein Ereignis oder eine Handlung stattfindet, die Personen, die daran beteiligt sind, die Ursachen und Wirkungen des Ereignisses oder der Handlung, die ideologischen Hintergründe und Prägungen der Akteure und vieles mehr.

Schlecht für eine kritische Geschichtsschreibung ist das jedoch nur, wenn diese Begriffe nicht genau definiert, sondern als verständliche – weil moderne – Ausdrucksform vorausgesetzt werden. Die eigentlich sinnvolle Analyseeinheit verkommt so mehr und mehr zur sinnentleerten Worthülse. Die Räume der Geschichtswissenschaft werden so weit, so unklar, dass mannigfache Auslegungen möglich werden.

Und darüber hinaus: Wie schon angeklungen, scheint sich dieses Phänomen zu einer spezifischen Methode zu entwickeln. Schon den Studenten der historischen Wissenschaft wird an den Universitäten beigebracht, sich möglichst gewandt in Fachbegriffen zu verlieren. Mit ihrer Hilfe gelingt es, sich als Spezialist zu behaupten und sich mit der Galauniform der Gelehrtheit zu schmücken. Die Lehrenden leben nicht selten vor, wie man so eine Uniform zu tragen hat. Sie umgeben sich durch ihre Texte, ihre Aufgabenstellungen, durch ihre Fragen, durch ihre Vorlesungen und sogar durch ihre Gesten mit einer Aura der unantastbaren Gelehrtheit. Ähnlich wie in der Politik, gelingt auch hier, was eigentlich in sich schon misslungene Wissenschaft ist. Texte werden so mit Verweisen überfrachtet, dass sie nichtssagend werden, um unangreifbar zu sein.

In Vorlesungen wird eine rasante Argumentation im Stakkato vorgetragen, sodass es zum einen schwer wird, ihr zu folgen und zum anderen viele Zusammenhänge undeutlich bleiben. Da hebt nur noch selten jemand die Hand und versucht vorsichtig fragend auszudrücken, dass er »noch« nicht folgen konnte. Und wer einen Text nur zur Hälfte versteht, ist nicht mehr in der Lage diesen zu kritisieren. Alles was der Historiker als kritischer Wissenschaftler eigentlich fördern und wünschen sollte, unterdrückt er – sei es bewusst oder unbewusst. Eine breite kritische Auseinandersetzung, welche dazu dient der Wahrheit näher zu kommen, wird von vorneherein unterbunden. Allein durch die Wahl ihrer Sprech- und Schreibweise und unabhängig von der Wahl des Ortes ihrer Austragung findet sie nur noch in Zirkeln ausgewählter Zuhörer und Diskutanten statt. Allein ihrer Sprech- und Schreibweise ist es auch zuzuschreiben, wenn sich die Auseinandersetzung zunehmend mit Begriffen und Darstellungsformen, statt mit dem Inhalt befasst. Die so künstlich geschaffenen Weiten historischer Begriffsdeutungen stehen mit einer anderen Entwicklung in enger Verbindung: mit den Weiten des Internetzeitalters.

Die Weiten des Internets oder »in der Kürze liegt die Würze«

Scheinbare unendliche Weiten der Information und der Desinformation hält auch das Internet bereit. Die Weite des Internets verführt geradezu dazu, die weiten Räume historiografischer Texte auszudehnen. Es bietet von der schnellen Synonymsuche bis zur Verfügbarkeit digitalisierter wissenschaftlicher Arbeiten eine zunehmende Fülle an Möglichkeiten, die Methode des Dekorierens zu verfeinern – aber auch die Chance dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Noch nie war es so schnell und mit so wenig Aufwand möglich, Begriffe zu klären oder ganze Plagiate zu entlarven. Noch nie war es so leicht zu publizieren und sich auszutauschen. Doch dazu bedarf es eines eingeübten Wissens. Nur wer die Herkunft und die Funktionsweise von Onlinepublikationen und Internetseiten kennt, kann aus all der Desinformation nützliche und richtige Informationen herausfiltern. Wie verlässlich ist etwa Wikipedia, das große Lexikon, in dem jeder schreiben und ändern kann, was er möchte, vorausgesetzt ein regelmäßig schreibender Autor nimmt die Änderungen an? Eigentlich verhält es sich hier, wie bei einer gedruckten Publikation. Die Aussage muss kritisch überprüft werden, wozu die Quellen- oder Literaturangabe herangezogen werden kann. Ist diese nicht verfügbar oder erreichbar hilft nur noch Vertrauen in den Autor oder die Autorin und vielleicht ein Feingefühl für richtige und falsche Aussagen. Was sich jedoch im Gegensatz zur gedruckten Publikation massiv verändert hat, ist die Anzahl der kritisch zu hinterfragenden Informationen. Jeder Satz, ja jedes Wort und jeder Buchstabe kann einer anderen Feder entstammen. Jede Internetseite kann aus einer anderen Motivation heraus entsprungen sein, als sie von den Lesern/innen angenommen wird. Die schiere Menge an Informationen macht eine zunehmende Ungenauigkeit ihres Gehalts nicht nur wahrscheinlich – sie ist die logische Konsequenz. Die technische Entwicklung führt so nicht nur zu Deutungskonflikten, sondern wirkt auch elementar auf die Arbeitsweise der Geschichtswissenschaft. Immer mehr Informationen müssen kritisch überprüft und bewertet werden. Diese Aufgabe überfordert bereits heute das Leistungsvermögen eines einzelnen Wissenschaftlers. Oft hilft dabei nur noch das gezielte Aussortieren und Weglassen ungeklärter Inhalte oder der Verweis auf deren unklaren Gehalt.

Leider gehen viele Autoren und Autorinnen auch diesbezüglich nachlässig mit den Weiten des Internets um. Die in einem kritischen wissenschaftlichen Text unverzichtbare Angabe über die Auswahl der Informationen und über die Art und Weise des Umgangs mit diesen, kommt häufig zu kurz. Einfache Fragen, wie »Warum wird diese Information verwandt und jene nicht?« oder »Weshalb kann aufgrund dieser Information keine eindeutige Aussage getroffen werden?«, bleiben oft unerörtert. Sie gehen mit der Galauniform der Gelehrtheit nicht konform und neigen dazu Schwäche zu offenbaren, weil die Perspektive so unmittelbar auf die Grenzen des eigenen wissenschaftlichen Arbeitens gelenkt wird. Dabei würden gerade solche »Eingeständnisse« das Arbeitsfeld und die Arbeitsweise klarer eingrenzen und nachvollziehbarer machen. Das Ansinnen, ein vor Inhalten strotzendes Werk abzuliefern, könnte einer exakten und einprägsamen Darstellungsform in aller Kürze und Beschränktheit weichen.

Einen Text exakt und aussagekräftig in aller Kürze zu verfassen, ist heute mehr denn je eine Notwendigkeit. SMS, Twitter und Chats zwingen regelrecht dazu, sich kurz zu fassen. Dadurch sollte der oder die Verfasser/in eigentlich darin geschult werden, sich in knappen und allgemeinverständlichen Worten auszudrücken, und der oder die Leser/in sollte sich aneignen können, dicht gepackte Informationen zu entziffern und zu deuten. Nicht selten kommt es dabei jedoch zu kommunikativen Missverständnissen, weil wesentliche Inhalte vorausgesetzt und einfach nicht ausgeschrieben werden:

»Kommst du um eins?«
»Wann, heute oder morg.?«
»heute geht nicht mehr, ist 2L8«
»Ok, dann bis morg.«
»Wann jetzt? Um eins?« …

Ähnlich kann es sich bei historischen Texten verhalten. Der Wunsch möglichst viele Informationen in einen kurzen Text zu bringen zwingt immer auch dazu, unausgesprochene Verweise auf Informationen außerhalb des Texts zu verwenden und das Wissen um diese vorauszusetzen. Asymmetrische und symmetrische Verflechtungen, Generationserfahrungen, Phaseneinteilungen und Zäsur-setzungen, transnationale und internationale Überlappungen, regionale und überregionale Identitäten, die Lebenswelt, Selbstwelt und die Scheinwelt, der kulturelle und indentitätsbildende Konsens und die Konvergenz historiografischer Prozesse verbinden sich mit sozio-kulturellen, sozio-politischen, sozio-ökonomischen und selbst sozio-sozialen Gebilden zu einer alles mit einbeziehenden Gemengelage von Begriffen. Doch sind diese auch nachvollziehbar?

Historiografische Texte dürfen, ja müssen sogar anspruchsvoll sein. Um komplexe Zusammenhänge und Entwicklungen annähernd beschreiben zu können, ist dies notwendig. Eine schlichte Vereinfachung der Sprache würde in eine falsche Richtung führen. Wichtig ist vielmehr, dass der Autor oder die Autorin den Leser und die Leserin im Gedankengang mit sich nimmt. Der Text muss die Leser sprachlich durch Erläuterungen an der Hand nehmen und diesen so die Möglichkeit eröffnen, die Struktur des Texts und des Inhalts zu begreifen und zu überdenken. Nur so ist auch das kritische Element, die Nachvollziehbarkeit möglich, nur so ist ein wissenschaftlicher Text wirklich falsifizierbar. »In der Kürze liegt die Würze«, aber in der Deutlichkeit der vollendete Geschmack.

Stilblüten

Die Nachvollziehbarkeit geschichtswissenschaftlicher Texte wird nicht nur durch die zahlreiche Verwendung von Verweisen behindert – auch der Schreibstil ist für das Verständnis und somit für kritische Geschichtsschreibung wesentlich. Die Deutlichkeit bleibt etwa auf der Strecke, wenn man zu lange Sätze bildet, die sich durch Einschübe und Aufzählungen, Gedankeneinfügungen und Deutungen – welche im Allgemeinen weder der Aussage dienen, noch den Inhalt verständlicher machen, sondern vielmals einfach dazu dienen, sein eigenes Denken in den Text zu bringen – in eine Länge ziehen, die, ohne mehrmaliges Zurückstolpern und wiederholtes Nachlesen einzelner Passagen, nicht zu verstehen ist, weil das Denken beim Lesen einfach nicht so viel Zeit und Muße hat, wie beim Schreiben. Dann gibt es zwei Möglichkeiten, man liest oberflächlich und versteht die Richtung der getroffenen Aussage, oder man liest genau und mehrmals, um auch die Feinheiten der langen Sätze zu verstehen und um sicher zu gehen, nicht wesentliche Inhalte überflogen zu haben. Grundsätzlich ist es also verständlicher, kurze Sätze zu schreiben. Diese sollten klar strukturiert sein und prägnant den Inhalt wiedergeben. Der kurze Satz nimmt den Leser mit. Er dient der Nachvollziehbarkeit.

Mit der zunehmenden Verflechtung bedeutender Worte und spekulativer Formulierungen entzieht sich ein Text zunehmend eventueller Kritik. Oft scheint dies sogar der Anlass für diesen Stil zu sein. Nicht immer spielt nur das Ausweisen eines Fachjargons die Hauptrolle. Einfache Feststellungen lassen sich auch einfacher angreifen, wogegen komplizierte Wendungen dem Kritiker schon beim Lesen die Lust rauben, sich ausführlicher mit deren Inhalt zu befassen. Wie leicht kann etwa die Feststellung »Adolf Eichmann war Antisemit« überprüft werden, wohingegen ein Satz wie »Adolf Eichmann verfügte über eine intrinsische Motivation nicht nur die Dikta seiner Befehlsgeber und -weitergeber zu erfüllen, sondern auch die ihm zugetragene Aufgabe aus innerlicher Überzeugung heraus, nach, wie er selbst sagte, bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen, woraus man schließen kann, das er Antisemit war oder zumindest antisemitischen Einstellungen eine hohe Bedeutung zusprach« weniger Anreize zur Überprüfung bietet.

Welcher Art müsste ein zeitgemäßer historiografischer Text also sein, um nachvollziehbar zu sein und zusätzlich mit der Bildfülle und der Geschwindigkeit der neuen Medien Schritt halten zu können? Nicht unterschätzt werden sollte dabei der Wechsel von einer deskriptiven Beschreibungsebene hin zu einem Text, der Leser und Leserin mitnimmt, sie förmlich in seinen Bann zieht und im besten Fall in eine andere Zeit versetzt. Natürlich muss dies nicht fiktional erfolgen und so in die Gefahr geraten sich den Mittelaltererzählungen der Bahnhofsbücherei anzugleichen. Wichtig ist eben der Wechsel der Sichtweisen. Mitgenommen fühlen sich Leser/innen auch, wenn der arbeitstechnische Aspekt des Historikers oder der Historikerin klar zum Vorschein kommt. Das detektivische Aufspüren von historischen Informationen, die Gedanken, die dabei leitend sind und auch die Punkte, an denen ein begangener Weg nicht weiter führt und scheitert, sind hier von größerem Interesse, als von vielen Historikern angenommen. Dadurch wird nicht nur der Lesespaß größer, sondern auch der Inhalt reicher. Argumentationen und Schlussfolgerungen lassen sich auf diese Weise leichter nachvollziehen. Nicht nur die Fakten spielen eine Rolle, sondern auch der Weg, sich diese zu erschließen. Gerade in Bereichen, die nur Annäherungen an ein Thema erlauben, ist die Beschreibung der Spekulation unerlässlich und hilft schlussendlich dabei, ein sinnvolles und exaktes Gebilde zu schaffen, dass zudem spannend zu lesen ist.

Das historische Präsens etwa ist eine Stilform, die es den Lesern leichter macht, sich in die beschriebene Zeit und die Personen einzufinden. Dabei müssen nicht zwangsläufig größere Zusammenhänge und Metaebenen zu kurz kommen. Der geschickte und deutlich durch Kapitel oder Absätze gekennzeichnete Wechsel von Stilformen wirkt regelrecht belebend auf geschichtswissenschaftliche Texte. Außerdem könnten mit einer Erklärung versehene Bilder und Grafiken, die oft nur schriftlich ausgedrückten Analysen veranschaulichen. Hier sollte sich die Geschichtsschreibung ein Beispiel an anderen Wissenschaften nehmen.

Plädoyer gegen den überflüssigen Modewortgebrauch

Allzu oft hat man bei der Lektüre wissenschaftlicher Texte den Eindruck, der Verfasser galoppiert in seiner Wortwahl einem Traditions- und Denkgefüge hinterher, ohne die Bedeutung der Worte genügend zu reflektieren. Dabei sind nicht nur Prägungen einzelner Denkrichtungen abzulesen, sondern auch ein Modezwang in der Geschichtswissenschaft.

Der Einzug der Sozialwissenschaften in historiografische Texte ist durchaus eine Bereicherung – aber nur, wenn die Verwendung ihrer Modelle und Begriffe auch sinnvoll ist. Wie wäre es etwa, wenn man der Philosophie diesen Platz einräumen würde. Schließlich ist diese »Ur-Wissenschaft« nicht nur der Grundstein aller anderen, sondern erforscht schon seit ihren Anfängen die Natur und das Zusammenspiel der Menschen. Eine mit Heideggers Worten geschriebene Geschichte der 1968er Jahre würde sich dann vielleicht so anhören:

»Gegen Ende der 1960er Jahre setzte sich im Dasein eine Sorgestruktur durch, die sich gänzlich am Gegenwärtigen vergegenwärtigte und sowohl Gewesenheit als auch Zukünftigkeit umwertete. Darüber hinaus konnte die Gewesenheit als uneigentliches Phänomen entlarvt werden, das seit Jahrzehnten den Weg zur Eigentlichkeit des Daseins versperrt hatte und welches es nun im Sein zum Tode mitsamt seiner Alltäglichkeit zu bekämpfen galt.«

Auch diese Beschreibung regt zum Nachdenken an, der exakten kritischen Geschichtswissenschaft ist sie nicht dienlich.

Geschichtsschreibung sollte allen Menschen dienen und zugänglich sein. Aufgabe der Wissenschaftler/innen sollte es sein, komplexe Zusammenhänge möglichst so zu erklären, das sie verstanden und nachvollzogen werden können. Dadurch öffnet sich der Text für eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Inhalten – was übrigens auch gelingt, ohne in populärwissenschaftliche Muster zu verfallen, denen vielfach ebenfalls ein Mangel an Nachvollziehbarkeit und Objektivität zu unterstellen ist. Wenn schon komplexe Terminologien Verwendung finden, gilt es diese zu erklären und genau darauf zu achten, ob sie notwendig sind, um den Zusammenhang oder die zu beschreibende Sache exakt zu treffen.

Ich möchte dafür plädieren, geschichtswissenschaftliche Texte Leser/innenfreundlich zu schreiben. Durch gute Erklärungen, Definitionen von Begriffen und eine schlüssige Argumentation sollten diese nicht einfacher, sie sollten nachvollziehbarer sein. Nur so werden sie dem Anspruch einer kritischen Geschichtsschreibung gerecht.

Zurück zum Professor

Wie schon zu vermuten war, gelang es dem Professor, die Weite der historischen Räume derart auszuweiten, dass ihm kein downfusen, kein connecten und keine Tracking-Spot-ID mehr zu nahe kam. Er meldete seinen Internetzugang ab und konzentrierte sich fortan nur noch auf geschriebenen, realen, herrlich nach Tinte duftenden Text. Seine Kollegen taten es ihm gleich. Einmal wöchentlich trafen sie sich in einem Real-Life-Forum, um neue Erkenntnisse zu besprechen. Studenten gab es sowieso kaum mehr. Die Meisten hatten sich nach der Bekanntgabe der letzten Prüfungsfrage durch Online-Abmeldung vom brotlosen Studium verabschiedet. Ganz ohne Arglist hatte der Professor wissen wollen: Warum darf, kann oder muss kritische, reflektierende und konsistente Historiografie deviant sein? Google lieferte dazu nur 56 Treffer – zu wenig um sich überhaupt damit zu befassen.

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