Am 30. Dezember 1944 wird in der Prinz-Albrecht-Straße 8 in Berlin, dem Hauptquartier der Gestapo, ein geheimer Schnellbrief verfasst.
Unterschrieben wird er vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Ernst Kaltenbrunner. Und auch der Adressat genießt eine der höchsten Positionen im NS-Regime. Es ist Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. In dem Brief geht es um die französischen Mitglieder der deutsch-französischen Waffenstillstandskommission, die bis zum Sommer 1944 noch als ›militärische Diplomaten‹ in Wiesbaden zwischen dem Deutschen Reich und dem kollaborierenden Vichy-Regime unter Marschall Philippe Pétain die Umsetzung des Waffenstillstandvertrags durchzuführen hatten. In Auszügen schreibt Keitel folgendes:
»Sehr geehrter Herr Generalfeldmarschall!
Nach dem Rückzug der deutschen Truppen aus Frankreich wurden die Mitglieder der französischen Waffenstillstandskommission auf Weisung des RF-SS aus ihrer bisherigen Stellung entfernt und unter Aufsicht der Sicherheitspolizei im Jagdschloß Rüdesheim untergebracht. Der RF-SS betrachtete die Mitglieder der französischen Waffenstillstandskommission u.a. als wertvolle Pfänder in deutscher Hand. Die Unterbringung im Jagdschloß Rüdesheim trug nicht den Charakter einer Haft, sondern mit Rücksicht auf die bisher eingenommene Stellung wurde lediglich eine eingehende polizeiliche Überwachung vorgenommen. Sehr bald stellte sich heraus, daß die Mitglieder der französischen Waffenstillstandskommission, insbesondere General Vignol als Führer der Abordnung, den Waffenstillstand als beendigt und den Kriegszustand als erneut eingetreten ansahen. Gleichzeitig erklärten sie, daß nicht der Marschall Pétain, sondern General de Gaulle die für sie zuständige Autorität sei.«
Aus dieser Haltung müssten, so Kaltenbrunner, entsprechende Folgerungen gezogen werden:
»Vorgeschlagen wurde von mir, die Offiziere der Waffenstillstandskommission als sogenannte Sonderhäftlinge bevorzugt unterzubringen und zu behandeln. Anfang Dezember wurde das Jagdschloß Rüdesheim durch Feindeinwirkung in Mitleidenschaft gezogen […]. Ich veranlasste deshalb die Überführung in das Golfhotel in Marienbad. […] Die äussere Behandlung entspricht diplomatischen Grundsätzen, wie bereits aus der Art der Unterbringung und den Lebensmittelsätzen hervorgeht. Ich habe ausserdem einen geeigneten SS-Führer mit sprachlich geschulten Hilfskräften abgestellt, der alle Wünsche der französischen Abordnung mir übermittelt. Eines besonderen Verbindungsoffiziers der Wehrmacht bedarf es daher an sich nicht. Auch aus Zweckmässigkeitsgründen halte ich es für angebracht, wenn möglichst nur eine deutsche Behörde der französischen Abordnung durch bevollmächtigte Vertreter gegenübertritt.«
Am 21. Januar antwortet Keitel:
»Lieber Obergruppenführer Dr. Kaltenbrunner!
Mit Ihrer Ansicht in Ihrem Schreiben vom 30.12.1944, dass gegen die Französische Abordnung der Deutschen Waffenstillstandskommission, wenn diese sich zu de Gaulle bekennt, Schritte unternommen werden müssen, stimme ich völlig überein. Die Mitglieder der Franz. Abordnung haben während ihres Aufenthaltes in Deutschland, wie wir selbst anerkannt haben, die rechtliche Stellung von Parlamentären im Sinne der Haager Landkriegsordnung. Nach Art. 32 der Haager Landkriegsordnung sind Parlamentäre unverletzlich. Hierzu würde die Behandlung der Mitglieder der Franz. Abordnung als Sonderhäftlinge im Widerspruch stehen. Übereinstimmend mit dem Ausw. Amt bin ich aber der Auffassung, dass Mittel und Wege zu finden sind, um diese rechtlichen Bedenken auszuräumen und die Behandlung mit der von ihr bezeugten Einstellung zu de Gaulle in Einklang zu bringen.
Das Auswertige Amt wird unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Abordnung von der Vichy-Regierung seinerzeit eingesetzt worden ist, den französischen Regierungsausschuss veranlassen, General Vignol und die anderen Mitglieder der Franz. Abordnung aufzufordern, ihre Tätigkeit bei der Deutschen Waffenstillstandskommission fortzusetzen. Lehnt die Franz. Abordnung, wie zu vermuten, diese Aufforderung ab, so müsste der Regierungsausschuss ihre Amtsenthebung aussprechen. Damit wäre ihre Parlamentäreigenschaft erloschen. Alsdann ist auch in rechtlicher Hinsicht die Möglichkeit gegeben, die von Ihnen beabsichtigten Massnahmen durchzuführen.«
Nachdem Keitel versichert, das Auswärtige Amt um beschleunigte Schritte zu bitten, erinnert er Kaltenbrunner an den ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers, den formellen Fortbestand der Waffenstillstandskommission zu sichern:
»Die Mitglieder der Franz. Abordnung sind hiernach bis zu ihrer Ablösung nach diplomatischen Grundsätzen zu behandeln.«
Dieses Beispiel zeigt, wie die seit 1899 geltende und vom Deutschen Reich mitunterzeichnete internationale Haager Landkriegsordnung durch die bürokratische Beseitigung des Parlamentärstatus ausgehebelt werden sollte. Die Nationalsozialisten legten ganz unterschiedliche völkerrechtliche Maßstäbe an. So hatten ›bolschewistische‹ Feinde seit Beginn des ›Ostfeldzuges‹ ebenso wenig mit einer rechtsgestützten Behandlung zu rechnen, wie seit der Machtübernahme alle politischen Feinde außerhalb und innerhalb des Reiches. Westlichen Kombattanten, insbesondere den Militärs, wurde von Wehrmacht und Nationalsozialisten ein anderer Rechtsanspruch zugewilligt. Hier galt es verbrecherische Maßnahmen direkter zu rechtfertigen, um so den Schein der Rechtmäßigkeit zu wahren. Während etwa die »Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare« vom 6. Juni 1941, der sogenannte ›Kommissarbefehl‹, ideologisch und nicht völkerrechtlich begründet war, wurden ›Geiselerschießungen‹ und Verbrechen an westlichen Kriegsgefangenen als »Repressalien« gerechtfertigt. »Repressalien« sind völkerrechtlich gesehen verhältnismäßige Rechtsverletzungen um einen anderen Staat wieder zur Einhaltung des Völkerrechts zu zwingen. Trotz offensichtlicher Rechtsbrüche wurde bis ins letzte Kriegsjahr hinein versucht, durch Verschleierung den Anschein eines Rechtsstaates zu vermitteln. So auch im Fall der französischen Abordnung der Waffenstillstandskommission. Durch einfaches Taktieren wurden aus ›Parlamentären‹ ›Sonderhäftlinge‹, deren »äußere Behandlung« fortan nicht mehr »diplomatischen Grundsätzen« entsprechen musste.
Ein weiterer Aspekt ist interessant. Am selben Tag, an dem Kaltenbrunner bei Keitel die Zuständigkeit über die französischen Offiziere für die SS zusichern möchte, befiehlt er die Ermordung des französischen Kriegsgefangenen General Maurice Mesny. Sebastian Weitkamp widmet diesem Kriegsverbrechen in seiner 2008 erschienenen Dissertation »Braune Diplomaten. Horst Wagner und Eberhard von Thadden als Funktionäre der ›Endlösung‹« ein ganzes Kapitel (S. 327–370). Er weist durch Akten späterer Prozesse und zeitgenössische Quellen nach, wie akribisch der Mord geplant und ausgeführt wurde. Um den Erschießungstod des deutschen Generals von Brodowski am 28. Oktober 1944 in französischer Gefangenschaft zu rächen, suchten das Reichssicherheitshauptamt und wenig später auch das Auswärtige Amt nach einer Möglichkeit der Vergeltung. Keitel und Kaltenbrunner drangen persönlich darauf und ließen jegliche Vorbehalte mit dem Argument, der Führer habe dies befohlen, nichtig erscheinen. Nach mehreren Wochen der Überlegung über Personen und Tötungsart wurde Maurice Mesny als Opfer ausgewählt. Er wurde am 19. Januar 1945 durch einen Kopfschuss während einer vorgeschobenen Gefangenenverlegung ermordet. Wie bei Brodowski wurde offiziell verlautbart, er sei »auf der Flucht erschossen« worden.
Das Vorhaben Kaltenbrunners, die französischen Offiziere der Waffenstillstands-kommission als ›Sonderhäftlinge‹ unter seinen Befehl zu bringen, verliert spätestens mit Blick auf den Mord an Mesny seinen bürokratischen Charakter. Sie sollten als Druck- und Vergeltungsmittel in den Händen der SS dienen.
Beide Quellen befinden sich im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg und haben die Signatur BA-MA RW 34/12. Sebastian Weitkamps Dissertation ist beim Verlag J.H.W. Dietz Nachf. erschienen und wurde unter anderem bei H-Soz-u-Kult und sehepunkte rezensiert.